Die Schlusssteine in der evangelischen Spitalkirche
Der virtuelle Tag des offenen Denkmals bietet die Chance, eine Kostbarkeit der Biberacher Baugeschichte von Nahem zu betrachten. Es sind die spätgotischen Schlusssteine im Kreuzrippengewölbe der evangelischen Spitalkirche, die hier als Bildreihe vorgestellt werden.
Geht man „analog“ in die Kirche hinein, muss man mühsam den Blick nach oben richten, um die Schlusssteine genauer betrachten zu können. Das war nicht immer so, denn der Raum wurde nicht als Kirche, sondern als Krankensaal erbaut. Sie hatten, in ihren Betten liegend, die kleinen Kunstwerke vor Augen und konnten deren Inhalte wohl besser „lesen“ als wir heutzutage.
Die Schlusssteine sind in drei Reihen mit jeweils 5 Steinen als Abschluss der Gewölbe angeordnet. Den letzten Stein findet man im Gewölbe der Altarapsis.
Erste Reihe: Lesbar als "Die biblischen Geschenke"
Erste Reihe: Lesbar als „Die biblischen Geschenke“
Maria mit offenem Haar und reich gefaltetem Gewand hält das lächelnde Jesuskind auf ihrem Schoß. Die Darstellung symbolisiert das Jesuskind, als das Geschenk Gottes an die ganze Menschheit.
Die mittleren Steine dieser Reihe zeigen die drei Magier oder Könige mit ihren Gaben für das neugeborene Kind. Sowohl ihre Namen als auch die ihnen zugeschriebenen Symboliken sind legendarisch und wechseln im Laufe der Jahrhunderte. So verkörpern sie anfangs die verschiedenen Lebensalter und später die drei damals bekannten Erdteile, die dem neugeborenen Kind huldigen.
Melchior verkörpert Europa. Er ist der Älteste, das erkennt man an seinem Bart und an seiner ruhigen Körperhaltung. Als Gabe hält er eine Truhe mit Gold in den Händen. Es ist das Geschenk für den künftigen König.
Kaspar, der Jüngste, kommt stürmisch daher. Mit der einen Hand muss er seine Krone festhalten, in der anderen trägt er einen goldenen Pokal, vielleicht ein Räuchergefäß. Er wird als Sinnbild für Afrika dargestellt und bringt den wohlriechenden Weihrauch als Gabe der Anbetung.
Balthasar, in mittlerem Alter, setzt zierlich einen Fuß vor den anderen. Vielleicht will er sich verbeugen. Er trägt ein Wams mit weiten Ärmeln. Die linke Hand fasst den Gürtel, die rechte bringt eine Myrrhenschale als Geschenk. Dies wird als Hinweis auf Tod und Auferstehung Christi gedeutet, weil Tote mit Myrrhe einbalsamiert wurden
Das Schweißtuch zeigt Christus mit Dornenkrone. In dem gepeinigten Jesus erfahren die Armen und Kranken den Bruder, der zu ihrer Erlösung sein Leben gegeben hat.
Zweite Reihe: Die mächtigen Beschützer und Institutionen, die im Dienste der Armen und Kranken gottgefällige Werke tun
Ein Engel hält eine Urkunde mit den Siegeln von Stadt und Reich. Darauf steht die Jahreszahl 1472, die 4 ist als „halbe 8“ dargestellt.
Das Wappen der Reichsstadt. Ein Engel hält das Wappen der freien Reichsstadt Biberach mit dem Biber. Erst seit 1488 ist es ein goldener Biber.
Wappenschild des Reiches. Ein Engel hält das Reichswappen mit dem Adler.
Spitalwappen, darauf abgebildet ist das österliche Lamm mit Siegesfahne und Kreuz (ab 1317).
Der auferstandene Christus, von einem Tuch umhüllt, zeigt er auf seine Wundmale. Er steht als geistliche Macht an höchster Stelle und ist zugleich der Beschützer und Helfer der Kranken und Sterbenden.
Dritte Reihe und Schlussstein über dem Altar: Die Werke der Barmherzigkeit
Auf jedem der Schlusssteine ist eine Ordensfrau zu sehen, die die Werke der Barmherzigkeit an Armen und Kranken ausüben. Die Gestalt könnte aber auch gedeutet werden als „Frau Liebe“ – eine Personifikation der Nächstenliebe (= lateinisch: Caritas, griechisch: Diakonia)
Fremde beherbergen
Eine Ordensfrau führt an der linken Hand einen Zerlumpten und Verletzten mit Krücke. Mit der rechten Hand öffnet sie die Tür zum Spital, erkenntlich an der eingeritzten Jahreszahl 1472, dem Erbauungsjahr des Spitals in der Stadt. Zu sehen ist ein Fremder, der in die Herberge des Spitals aufgenommen wird.
Neu Denken: Gästen und Flüchtlingen freundlich begegenen.
Nackte bekleiden
Eine Ordensfrau reicht einem spärlich Bekleidetem, der eine Kappe trägt, ein reichlich gefaltetes Kleidungsstück.
Kleiderläden mit günstigen, gebrauchten Kleidern sind bis heute ein wichtiges Aufgabengebiet der Diakonie – in Biberach die Läden „Trag’s weiter“ und „Tragwerk“.
Neu Denken: Menschen nicht allein lassen, die sich bloßgestellt fühlen.
Hungrige speisen
Eine Ordensfrau reicht einer knieenden Frau ein Laib Brot. Brot ist das elementarste Lebensmittel und steht für alles, was der Mensch zum Leben braucht. Vorbild ist Jesus selbst und Erzählungen wie „die Speisung der 5000“.
Neu Denken: den Hunger nach Zuwendung und Gemeinschaft stillen.
Gefangene besuchen
Eine Ordensfrau betet mit einem Gefangenen, seine Füße schauen aus einer hölzernen Fußfessel (Stock) heraus.
Bis heute ist die Gefängnisseelsorge eine wichtige pastorale Aufgabe der beiden Kirchen. Dazu gehört auch der Einsatz für Menschenrechte und speziell der Religionsfreiheit.
Neu Denken: Für Menschen dasein, die aus der Gesellschaft ausgeschlossen sind.
Durstige tränken.
Ein Mann, mit Kappe bekleidet und barfüßig, hat sich erschöpft niedergelassen. Eine Ordensfrau reicht in einer Schale Wasser. Das Wasser ist in der ganzen Bibel ein Symbol für das „Wasser des Lebens“, damit für die Taufe und alles, wonach einen Menschen seelisch dürstet.
Neu Denken: Dem Durst nach Sinn und Ziel unseres Lebens eine Richtung geben.
Kranke pflegen
Es ist das vornehmste Werk der Barmherzigkeit. Eine Ordensfrau oder auch Frau Liebe sitzt am Bett eines Kranken. Sie glättet das Bettzeug und hat in einer Hand ein Tuch, vielleicht, um dem Kranken die Stirn abzuwischen. Auch dieses Werk der Barmherzigkeit erinnert an den barmherzigen, helfenden und heilenden Umgang Jesu mit Kranken und vom gesellschaftlichen Leben Ausgeschlossenen.
Neu Denken: Menschen in schwierigen Situationen nicht allein lassen.
Es erstaunt uns heute, dass ein Krankensaal im späten Mittelalter ähnlich reich mit Kunstwerken ausgestattet war wie ein Kirchenraum. Und nicht nur das: der Chronik von Joachim von Pflummern entnehmen wir, dass dort, wo noch heute der Altar steht, im Mittelalter täglich die Messe für die Kranken gelesen wurde. Auch gab es zwei lange Esstische für diejenigen, welche aufstehen konnten. Ebenso gab es einen Ofen und einen Schüttstein mit fließendem Wasser, für die damalige Zeit ein echter Luxus. Dazu muss man sich viele Bettreihen (vermutlich ca. 60 Bettstellen), vielleicht mit Mehrfachbelegung vorstellen.
Vermutlich hat der Steinmetz Jakob Ruez (Ruß), um 1430 in Überlingen geboren und zeitweise in Ulm tätig, die Schlusssteine geschaffen.
Nutzung als Kirche
Die Spitalkirchen sind Eigentum der Biberacher Hospitalstiftung und den Kirchengemeinden zum „Niesbrauch“ (also zu zum Gebrauch) überlassen. Für den jeweiligen Kirchenraum selbst müssen die Kirchengemeinden aufkommen, das Äußere des Gebäudes ist in der Verantwortung der Hospitalstiftung.
Seit 1649 wurde der Raum durch den Paritätsvertrag der evangelischen Kirchengemeinde zusprochen, schon zuvor sind dort Gottesdienste abgehalten worden. Erst Anfang des 18. Jahrhunderts wurde er als Kirche geweiht.
1989 wurde der Kirchenraum zuletzt renoviert und die Schlusssteine restauriert.
Der Kirchenraum ist normalerweise nicht geöffnet, es finden aber regelmäßig Gottesdienste und musikalische Veranstaltungen statt. Die evangelische Spitalkirche ist regelmäßig Teil der Biberacher Stadtführungen und gilt als schönster spätgotischer Raum zwischen Donau und Bodensee.